Was ist eigentlich ein Trauma?
Ursprünglich stammt der Begriff Trauma aus dem Griechischen und bedeutet einfach „Wunde/Verletzung“.
Auf unseren Körper bezogen lautet die Oxford Language Definition „durch Gewalteinwirkung entstandene Verletzung des Organismus.“
Und auf unsere Psyche bezogen lautet hier die Definition „starke psychische Erschütterung, die (im Unterbewusstsein) noch lange wirksam ist.“
In der aktuellen Ausgabe des ICD10 (WHO) wird Trauma als „belastendes Ereignis von außergewöhnlicher Bedrohung oder mit katastrophalem Ausmaß, das bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde“ beschrieben.
Mhm.
Die deutsche Traumastiftung wiederum präsentiert eine Definition, der ich ohne weiteres zustimmen kann. „Ein belastendes Ereignis oder eine Situation, die von der betroffenen Person nicht bewältigt oder verarbeitet werden kann.“
Was ist meine persönliche Definition von Trauma - und was bedeutet das für die Traumafolgen?
Meine persönliche, ganz simple Definition lautet: „Trauma ist ein spontan unser Nervensystem überforderndes Ereignis, das daher nicht gewinnbringend verarbeitet werden kann.“
Ich glaube, dass es im Leben darum geht, Erfahrungen zu machen, um den eigenen Horizont zu erweitern. Auf dieser Reise kann es uns natürlich immer wieder passieren, dass wir uns Ereignissen oder Erlebnissen ausgesetzt sehen, die erst einmal sehr überfordernd für uns sind. Sodass wir spontan eben keinen Gewinn, sprich keine neuen bereichernden Erkenntnisse, daraus ziehen können.
Sondern, ganz im Gegenteil, erst einmal, in einer limitierenden Sicht auf das Geschehene und unsere Zukunft quasi hängen bleiben. Und damit unsere Lebendigkeit und die hiermit verbundenen Freuden und Möglichkeiten mehr oder weniger drastisch einschränken.
Beispiele für Trauma und Traumafolgen aus meiner Sicht – es geht um das WIE und nicht um das WAS
Ein sehr einfaches Beispiel. Wenn ich als 5-Jährige entgegen der Warnung meiner Mutter in einem unbeobachteten Moment auf die heiße Herdplatte fasse und mir ordentlich die Finger verbrenne, habe ich unterschiedliche Möglichkeiten, darauf zu reagieren.
Gewinnbringend wäre: „Oha, das war nicht gut. Und meine Mutter hatte anscheinend einen guten Grund mich zu warnen. Das werde ich mir merken. Herd ist super zum Kochen, aber nix für die Finger.“Traumatisierend wäre: „Oh, wie konnte das passieren? Das tut ja ganz furchtbar weh. Wird das jemals wieder gut? Der Herd ist etwas ganz Böses. Damit will ich nichts mehr zu tun haben. Und in mein Haus kommt mir so ein Teil nicht.“ Heißt, ab da nur noch kaltes Essen. 😉
Ernsthaft: wie man an diesem Beispiel schön sieht, kommt es eben NICHT darauf an, WAS man erlebt hat, sondern WIE man das, was passiert ist, erlebt hat. Und so kann auch eine vermeintliche Kleinigkeit nachhaltig traumatisierend im Sinne von „das Leben einschränkend“ sein.
Ein weiteres, fast alltägliches Beispiel für Trauma und Traumafolgen
Lass uns die Bemerkung der heiß geliebten Grundschullehrerin nehmen. Die beim Blick ins Heft mit den Hausaufgaben, für die man sich trotz schwach entwickelter Feinmotorik so richtig Mühe gegeben hat, unempathisch die Augen verdreht und sagt: „Hey, das sieht ja wieder aus wie Kraut und Rüben. Kannst du dir nicht mal ein bisschen Mühe geben?“
- Welches Kind wird daraus schlussfolgern, dass die Lehrerin wohl gerade einen schlechten Tag hat und daher die gemachten Anstrengungen nicht würdigen kann?
- Und wie viele Kinder werden daraus den Schluss ziehen, dass mit ihnen einfach etwas nicht stimmt? Sie trotz Anstrengung nicht erreichen werden, was sie gerne erreichen möchten?
Das Kind wird in aller Regel noch nicht einmal wahrnehmen, dass gerade etwas unter Umständen tief traumatisierendes passiert ist. Weil es das, was es da gerade erlebt hat, wahrscheinlich als „normal“ wahrnimmt. Und es wird die ganze (unangenehme) Situation somit höchstwahrscheinlich vergessen, nicht mehr bewusst erinnern.
Was aber bleibt: die gemachte Erfahrung und die gezogene Schlussfolgerung samt ihren Folgen.
Zum Beispiel: ein vermindertes Selbstbewusstsein. Das jetzt nicht einmal mehr der auslösenden Situation zugeordnet werden kann. (Wobei das, das sei schon hier zum Trost gesagt, alles in einer guten Therapie auch nachträglich aufgearbeitet und korrekt eingeordnet werden kann. Mit Gewinn!)
Heißt, es gibt also auch zahllose „banale“ Situationen, die für uns traumatisierend in dem Sinn sein können, dass wir statt mit einer gewinnbringenden Erkenntnis mit einer limitierenden Sicht auf uns, unsere Möglichkeiten und das Leben zurückbleiben.
Grundsätzlich wird zwischen verschiedenen Arten von Traumata unterschieden.
Zum einen gibt es das sogenannte SCHOCKTRAUMA, womit ein singuläres überforderndes Ereignis gemeint ist. Das kann zum Beispiel ein Autounfall sein. Oder auch eine Hochwassersituation.
Diese Form von Trauma wird heute auch oft mit Typ 1 Trauma klassifiziert.
Ganz knapp zusammengefasst: Es geschieht zu viel, zu schnell, auf einmal. Das Nervensystem ist ob der Fülle mit der Verarbeitung überfordert.
Dann gibt es ENTWICKLUNGSTRAUMA, oft auch Trauma Typ 2 genannt. Hierbei handelt es sich um länger andauernde Erfahrungen in der Kindheit. In denen wichtige Grundbedürfnisse (wie z.B. liebevolle Zuwendung, echte emotionale Nähe, Sicherheit) nicht erfüllt wurden. Man kann kurz zusammenfassen mit: zu lange, zu wenig oder sogar das Falsche.
Weiterhin gibt es dann noch Trauma Typ 3, das sich auf Traumatisierungen bezieht, die mit dem Internet zusammenhängen. Bei dem zum Beispiel Täter das Internet nutzen, um sich sexuellen Zugang zu Kindern und Jugendlichen zu verschaffen.
Ich glaube, es ist ziemlich offensichtlich, dass Trauma Typ 1 in aller Regel schneller und leichter zu bewältigen, heißt in eine gewinnbringende Erfahrung umgewandelt werden kann, als Trauma Typ 2 bzw. Trauma Typ 3.
Trauma und Resilienz bzw. der Umgang mit Trauma Typ 1
Lass uns davon ausgehen, dass jemand eine stabile Kindheit hatte, in der die wichtigsten Bedürfnisse für seine Entwicklung ausreichend erfüllt wurden. Und er somit eine stabile innere Basis aufbauen konnte. Dann ist doch leicht verständlich, warum dieser Mensch auch stark belastende Erlebnisse in relativ kurzer Zeit gut verarbeiten kann.
Diese wichtige Fähigkeit bezeichnet man als Resilienz.
Beispiele für Resilienz
Ich möchte hier gerne ein sehr plakatives Beispiel bringen, einfach, weil ich davon ausgehe, dass es vielen Lesern bekannt ist. Und dabei gleich bekennen, dass ich diesen Film LIEBE. Auch auf die Gefahr hin, damit direkt als naives Dummchen betrachtet zu werden. 😉
Forrest Gump, der Held des gleichnamigen Films, hatte nicht ganz einfache Voraussetzungen als Kind. Und auch die Dinge, die er in seinem weiteren Leben erfuhr, hätten viele Menschen daran zerbrechen lassen. Da er sich aber als Kind von seiner Mutter immer zutiefst geliebt, unterstützt und angenommen fühlte und sowohl durch ihr Vorbild, als auch durch die etwas eingeschränkte Aktivität seiner linken Gehirnhälfte (also des rationalen Denkens) auf die meisten einschränkenden Bewertungen verzichten konnte -„Dumm ist, wer dummes tut“- konnte er eine Resilienz entwickeln, die ihn all diese Ereignisse unbeschadet überstehen ließ.
Und so sein Leben trotz aller Schicksalsschläge weiterhin offen, zugewandt, herzlich, erfolgreich und dankbar leben. „Und weil ich ein zig Millionär war und weil ich so viel Spaß daran hatte, mähte ich den Rasen ganz für umsonst.“
Selbst als ihn ein sehr persönliches emotionales Erlebnis an den Rand seiner Belastbarkeit brachte, fand er einen Ausweg. Selfmade Traumatherapie durch Laufen. Quasi die Fortsetzung seiner Kindheitserlebnisse mit „Lauf, Forrest, lauf.“ Darüber mehr in Trauma und Traumatherapie.
Wem das zu primitiv und unrealistisch erscheint, der kann sich alternativ auch mit Viktor E. Frankl, einem jüdischen Psychologen, der im 2. Weltkrieg das KZ überlebte, auseinandersetzen. Highly recommended sein Buch: „Trotzdem JA zum Leben sagen.“
Oder auch mit Etty Hillesum und ihrem Buch „Das denkende Herz in der Baracke“ Hierbei handelt es sich um das beeindruckende Tagebuch einer jungen Frau im KZ, bis hin zu ihrer Ermordung.
Alles Beispiele von Menschen, die sich ihre Liebe und Lebendigkeit trotz absolut unmenschlicher Bedingungen im Außen erhalten konnten.
Sprich: die jede Menge Trauma Typ 1 nicht nur seelisch unbeschadet überstanden, sondern dadurch auch noch weit über sich hinauswuchsen.
Heißt das, man kann Trauma also wirklich „gewinnbringend“ verarbeiten?
Ich bin mir bewusst, dass es für viele Menschen sehr provozierend klingt, wenn ich davon spreche, dass man alles, was man erlebt, auch gewinnbringend verarbeiten kann.
Und ich weiß, dass diese Sicht sogar dem gängigen Weltbild vieler Therapeuten widerspricht.
Nichtsdestotrotz ist es meine Sicht. Und auch meine vielfach wiederholte Erfahrung. Mit mir selbst und meinen Patienten. Mehr darüber in Trauma ganzheitlich betrachtet (Blogartikel folgt).
Und wie sieht es mit der Verarbeitung von Trauma Typ 2 aus?
Kommen wir zu Trauma Typ 2. Besteht überhaupt eine Chance, Traumatisierungen, die sich über längere Zeiträume ereignet haben, im Nachhinein zu verarbeiten? Vor allem, wenn diese zudem noch in hoch vulnerablen Phasen der eigenen Entwicklung stattfanden? Und ist es auch hier möglich, mit einem Zugewinn aus der Situation zu gehen?
Quasi „viel Müll auf wenig Fundament“ umwandeln in „viel Fundament mit wenig Müll“???
Der beglückende Teil der Antwort ist: JA. Mit ganz wunderbaren Methoden. Im Grunde sogar weit leichter, als man meinen könnte.
Was für mich auch nach Jahrzehnten immer wieder ein kleineres bis größeres Wunder ist. Dem beiwohnen zu dürfen. Bei meinen Patienten wie auch bei mir selbst.
Der etwas ernüchternde Teil der Antwort lautet: es geht nicht von heute auf morgen. Und man muss es WIRKLICH wollen. Denn ein großer Teil der Heilung besteht immer darin, unliebsamen und schmerzhaften Gefühlen noch einmal den Raum zur Verarbeitung zu halten.
Statt weiterhin seine Kraft darauf zu verwenden, diese so wegzudrängen, dass man sie nicht mehr spüren muss. Und dann auch vieles andere nicht mehr spüren kann. Sich immer weiter von sich selbst entfernt. Zu einer mehr oder weniger gut funktionierenden Hülle mutiert.
Und am Ende irgendwann gar keine Kraft für „das eigentliche Leben“ übrigbleibt. Mehr darüber in Trauma und Traumatherapie.
Das gleiche gilt im Übrigen auch für Trauma Typ 3.
Kann man gleichzeitig Trauma Typ 1 und Trauma Typ 2 und/oder Typ 3 haben?
Last not least: ja. Nach oben sind in diesem Fall keine Grenzen gesetzt.
Menschen, die unter Trauma Typ 2 und/oder Typ 3 leiden, haben natürlich auch eine deutlich höhere Wahrscheinlichkeit, zusätzlich noch ein Trauma Typ 1 zu entwickeln.
Da sie ja grundsätzlich eine schwächere Resilienz und somit viel höhere Anfälligkeit für weitere Traumata in meinem Sinn von „Verarbeitungsstörung“ haben.
Oder treten Trauma Typ 1 und Trauma Typ 2 und/oder Trauma Typ 3 sogar immer gemeinsam auf?
Es gibt sogar die Ansicht, dass Trauma Typ 1 nie ohne Trauma Typ 2 oder Typ 3 auftreten kann. Weil ein wirklich resilienter Mensch im Grunde alles verarbeiten kann. Und zwar gewinnbringend. Diese Fähigkeit unserer Natur entspricht.
Da wären wir dann wieder bei Forrest Gump.
Gibt es darüber hinaus noch weitere Arten von Trauma?
Über die Bedeutung der pränatalen Traumata, also den Traumata, die wir aus unserer eigenen Schwangerschaft und unserer eigenen Geburt mitbringen, haben wir hier der Übersichtlichkeit halber noch gar nicht gesprochen.
Ebenso wenig wie über die transgenerationalen Traumata. Das sind die von Generation zu Generation weitergegebenen Traumata. Die auf Auflösung warten.
Darüber mehr unter Pränatale Trauma und Transgenerationale Traumata. (Blogartikel folgen noch).
Du siehst, Trauma ist aus meiner Sicht viel weiter gefasst, als man auf Anhieb meinen könnte. Um es bildlich auszudrücken, könnte man sagen: Trauma ist alles, was den freien Fluss des Lebens und seine Entfaltung verlangsamt, einengt oder sogar fast zum Stillstand bringt.
Womit Leben oftmals nur noch zu Überleben wird. Und sehr freudlos bis hin zu qualvoll sein kann.
Was versteht man allgemein unter Traumafolgen?
Wenn wir googeln, kommen Sätze wie: „Es treten starke Anspannungszustände mit Herzrasen, Schwitzen, Schlafstörungen, Albträumen, körperlichen Schmerzen, dissoziative Zustände und selbstverletzendes Verhalten auf.“
Oder: “Bei der postraumatischen Belastungsstörung finden wir Depressionen, Angststörungen, Essstörungen und somatoforme Störungen.“
Und auch: „Zunächst sind Menschen nach einer traumatischen Situation wie betäubt. Sie funktionieren rein mechanisch, wirken starr und abwesend. Später zeigen einige Betroffene anhaltende Angst und Schreckhaftigkeit, immer wieder erleben sie die traumatischen Momente vor ihren Augen.“
Mehr dazu auch unter: https://www.uniklinikum-dresden.de/de/das-klinikum/kliniken-polikliniken-institute/pso/patienteninformationen/informationen-zu-stoerungsbildern/traumafolgestoerungen
Vieles von dem, was wir hier finden bezieht sich auf Trauma Typ 1. Da diese Form von Trauma aber nicht die häufigste (und, wie gesagt, wohl eine Folge von Trauma Typ 2 oder 3 ist), bleiben die viel verbreiteteren Traumata und ihre Folgen/Ausdrucksweisen oft unberücksichtigt.
Dazu kommt, dass viele Menschen das, was sie in ihrer Kindheit erlebt haben, für „normal“ halten und nicht weiter hinterfragen. Gar nicht auf die Idee kommen, dass vieles davon im oben beschriebenen Sinn traumatisierend gewesen sein kann. Und mit den aktuellen Beschwerden und Problemen in Zusammenhang steht. Egal, ob diese Beschwerden in erster Linie körperlich oder seelisch sind.
Ich glaube, dass hier ein großer Aufklärungsbedarf besteht. Sowohl in Hinblick auf das Wesen von Trauma, seine Ursachen, seine Folgen, die Therapiemöglichkeiten und auch die darin verborgenen Chancen. (siehe auch mein Blogartikel "Welche Traumatherapien gibt es?").
Der Fluss des Lebens – vom Trauma zurück in die Lebendigkeit
Ich komme noch einmal auf mein Bild mit dem Fluss des Lebens zurück.
Wir alle sind ganz wunderbare und einzigartige Wesen. Durch jeden von uns möchte sich das Leben selbst in seinem ganzen Reichtum, in seiner größten und schönsten Fülle und seiner unendlichen Kreativität ausdrücken. Und darüber hinaus auch durch jeden von uns in seiner ganz speziellen Einzigartigkeit.
Trauma, also die Verarbeitungskapazität unseres Nervensystems überfordernde Ereignisse, engt diesen Fluss ein.
Verlangsamt ihn, macht starr, angespannt, freudlos und unbeweglich.
So kann aus einem reißenden, lebendigen, erfrischenden Strom ein fauliger Tümpel werden.
Du willst wieder in deine Lebendigkeit eintauchen? Dann direkt hier entlang (coming soon...).